Sonja Hartl

Die Angst vor Experimenten

Nun haben sie es wieder geschafft, die Miesepeter und Mittelmaßsucher, die am Sonntagabend bloß nicht in ihrer Routine gestört werden wollen. Sie haben es geschafft, weil es in der ARD an Rückgrat mangelt, an dem Willen einfach mal zu sagen, dass ihnen die Quote egal sei, denn sie sind ein gebührenfinanzierter Verein. Aber nein, das fällt dort niemandem ein – ist es noch nie und wird es wohl auch nicht. Da hatte ich angesichts einiger hervorragender „Tatort“-Folgen in diesem Jahr tatsächlich Hoffnung, dass etwas geht, im deutschen Kriminalfilm – und schon kriechen sie in der ARD zurück: Nachdem sich ARD-Programmchef Volker Herres schon im März nach Axel Ranischs „Babbeldasch“-Tatort – sagen wir – zurückhaltend begeistert zeigte, gibt es nun eine interne und mittlerweile von WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn bestätigte Vorgabe, dass es fortan nur noch zwei „experimentelle“ Krimis im Rahmen des „Tatorts“ geben würde. Wenngleich man weiterhin Filme wolle, die besonders sind und das Publikum überraschen. Wie man Zuschauer überraschen und zugleich ihre Erwartungen erfüllen will, weiß ich nicht. Aber vielleicht heißt es, dass Jan-Josef Liefers in den Münsteraner Tatorten mal eine neue Brille trägt.

Diese Vorgabe wirft so einige Fragen auf. Zunächst einmal eine rein praktische: Bisher haben die neun Landesrundfunkanstalten in ihren eigenen Redaktionen über ihren jeweiligen „Tatort“ bestimmt und entschieden, der Tatort-Koordinator Gebhard Henke vom WDR sorgte dafür, dass sich die Inhalte aufeinanderfolgender Tatorte nicht zu sehr ähneln. Künftig müssen dann wohl Sendeanstalten ihre „Experimente“ anmelden – aber wie soll das gehen? Gibt es dann eine Frist? Oder läuft es nach dem Prinzip, wer zuerst anmeldet, hat Glück, die dritte Anmeldung Pech? Das führt ja gerade bei kreativen Prozessen sicherlich zu hervorragenden Ergebnissen.

Die zweite Frage ist natürlich, was unter „experimentellen“ Krimis zu verstehen ist. Aus den Redaktionen ist zu vernehmen, dass Zuschauer vor allem dann Sturm laufen, wenn ein Sonntagskrimi das Genre sprenge und nicht die Erwartungen an einen klassischen, realitätstreuen Film mit Auflösung am Schluss erfülle. Und hier geht es schon los: Realitätstreu ist sicherlich nicht, dass es am Ende eine Auflösung gibt. Das ist ungefähr genauso naiv wie zu glauben, dass am Ende alles immer gut ausgeht. Denn im Leben folgt nicht immer das eine auf das andere, gerade Gewalt und Verbrechen sind manchmal schrecklich unlogisch, unmotiviert und nicht zu erklären. Aber das würde dann ja eventuell die Sonntagabendidylle stören, in der man sich mal kurz über soziale Missstände echauffiert und am Ende aber alles gut sei. Jedoch hat jedes Verbrechen Kollateralschäden, allein schon für die Angehörigen der Betroffenen. Hinter dieser Auffassung stecken somit der Wunsch nach einer scheinbaren Wiederherstellung der Ordnung und ein zutiefst konservativer Selbstbelügungsbau.

Offenbar gibt es also in der ARD mehrheitlich eine sehr altbackene Vorstellung von dem, was „Krimi“ ist, der sowieso immer wieder als Schlagwort verwendet wird. Volker Herres sagte – natürlich gegenüber der „Bild“: „Als Anwalt der Tatort-Fans stehe ich für den Markenkern. Und der heißt: Krimi!“ Aber so unter uns, Herr Herres, warum sollte Axel Ranischs „Babbeldasch“, das in diesem Jahr grandios gescheiterte Mundart-Mumblecore-Experiment, kein Krimi sein? Es gibt einen Mord, Ermittler, die ermittelen und letztlich den Täter überführen. Gebhard Henke fasst es gegenüber der dpa etwas genauer: „Der klassische Ermittlerkrimi ist und bleibt aber die DNA des Tatorts.“ Nun ist Ermittlerkrimi eine seltsame Kategorie, denn in sehr, sehr vielen Krimis gibt es einen Ermittler. Ich vermute, Gebhard Henke meint einen Polizeikrimi, in dem mehrere Polizisten in einem Verbrechen ermitteln, es aufklären und dann den Täter überführen. Aber auch das wird sogar von „Babbeldasch“ erfüllt. Doch was ist dann ein „experimenteller“ Krimi? Alles, was von der „Bild“ so eingeordnet wird? Es drängt sich zumindest zunehmend der Eindruck auf, in der ARD weiß man selbst nur so gefühlt, was unter Experiment zu verstehen sei. Es sei denn, man will wirklich auf die Regeln zurückgreifen, die „Tatort“-Erfinder Gunther Witte mal in den 1970er Jahren aufgestellt hat. Demnach ist ein „Tatort“ ein dem Realismus verpflichteter Ermittlerkrimi, hat keine Rückblenden und einen realistischen Fall, der im Mittelpunkt steht. Aber mal abgesehen davon, dass sich ein Format in über 40 Jahren vielleicht sogar bei der ARD weiterentwickeln darf – und auch auf die Gefahr hin, redundant zu werden: Auch diese Vorgaben erfüllt „Babbeldasch“.

Was sind nun also die Experimente, die zukünftig nur noch zweimal im Jahr stattfinden sollen? Ein Horror-Tatort wie der vom Hessischen Rundfunk, an dessen Ende es – wie der Kölner Stadtanzeiger in der an sich positiven Besprechung leicht entrüstet bemerkt – noch nicht einmal eine Auflösung gab, ob die Geister echt sind oder nicht, vermutlich. Das wäre dann ein Experiment mit Genregrenzen. Wie ordnet man die großartigen Tukur-Tatorte ein, für mich die Höhepunkte des Fernsehjahres – „Im Schmerz geboren“ gilt völlig zurecht als einer der besten Tatorte seit Jahren. Darf es den tatweitergeben? Oder wie sieht es mit Dominik Grafs „Der rote Schatten“ aus? Hier wird der handlungsauslösende Fall aufgeklärt, aber dennoch weiß man am Ende immer noch nicht, was damals in Stammheim passiert ist – und die Welt ist alles andere als in Ordnung. Und nicht nur das: dazu hat man allerhand Montagen gesehen, in denen sich Dokument und Fiktion nicht auseinanderhalten lassen. Sogar Dietrich Brüggemanns „Stau“ wurde zumindest in der Presse als „Experiment“ bezeichnet, obwohl er doch eigentlich eine klassische Tätersuche beinhaltet – inklusive Aufklärung. Könnte es vielleicht auch sein, dass das Wort „Experiment“ in Bezug auf „Tatort“-Folgen ein wenig inflationär gebraucht wird? Zumal dieses Wort vielleicht auch ein wenig davon von beispielsweise dem katastrophalen Umgang des NDR mit David Wnendts „Tatort“-Folge ablenken kann.

Letztlich ist zu befürchten, dass Überraschung im „Tatort“ fortan vor allem Ortswechsel meint. Damit wird ein Format zum Stillstand verdammt, dessen ungeheuren Möglichkeit gerade erst von den beiden Stuttgarter „Tatort“-Folgen von Brüggemann und Graf bewiesen wurde. Damit wir uns verstehen: Experiment ist nicht per se gut und natürlich ist beim „Tatort“ nicht jedes Experiment gelungen. Aber ein solch erfolgreiches Format muss es auch einmal aushalten können, dass die BILD eine Folge als schlechtesten Tatort aller Zeiten betitelt. Zumal es ohne Experimente den mittlerweile erfolgreichen Münster-Tatort nicht gäbe und einen Schimanski nie gegeben hätte. Denn es geht nun einmal nicht beides: Populismus und Weiterentwicklung.

hundAber woher der Wind weht, wird bei der zweiten Vorgabe deutlich, die nun absolut lächerlich ist: Künftig dürfen keine „Tatorte“ mehr in Cinemascope gedreht werden. Hintergrund sollen massive Beschwerden von Zuschauern über das nicht bildfüllende Format sein. Anscheinend schauen diese Menschen nur Fernsehen und weder Filme noch alte Serien auf ihrem Fernseher. Und die „Tatort“-Macher können sich zwar diebisch darüber freuen, wenn ihren Sendungen mal wieder „Kino-Format“ zugesprochen wird, aber dann doch bitte nicht zu viel Kino-Format. Kann man denn nicht wenigstens hier einfach sagen, „damit müssen Sie leben“ – und weitermachen? Aber nein, natürlich gibt man den Nörglern nach, sogar beim Bildformat. Sie sind es, auf die man hört. Das passt gut zu einer Zeit, in der man die Sorgen von Menschen ernstnehmen soll und dabei die Zuschauer ignoriert, die sich nicht lauthals beschweren. Ich bin übrigens auch Zuschauerin. Und ich will diesen Einheitsbrei nicht. Aber dann, so höre ich es jetzt schon, heißt es wieder, ich sei halt nicht die „typische Zuschauerin“. Woher auch immer man das weiß. Aber statt auf Nörgler und Bremser zu hören, sollte man sich in der ARD vielmehr über die Aufregung freuen, die jede „Tatort“-Folge erregt, die aus der Reihe tanzt. Doch dafür braucht es wohl zu viel Mut.

Erschienen im CrimeMag.

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

© 2024 Sonja Hartl

Thema von Anders Norén