In London gibt es Jack-the-Ripper-Touren. Touristen werden dann die Orte geführt, an denen Jack the Ripper gemordet hat – schaurige Unterhaltung, garantiert gefahrlos. Auch auf St. Pauli kann man eine Kriminaltour machen und sich von ehemaligen Polizeibeamten an Orte führen lassen, die durch Verbrechen bekannt sind. „Der Goldene Handschuh“ von Fatih Akin wird vermutlich nicht dafür sorgen, dass diese Touren häufiger gebucht werden.
In seiner Adaption von Heinz Strunks gleichnamigem Roman geht der Hamburger Regisseur nämlich vollends kompromisslos vor. Fritz Honka hat zwischen 1970 und 1975 in seiner Wohnung in Hamburg-Ottensen wenigstens vier Frauen ermordet. Alle waren Gelegenheitsprostituierte, Stadtstreicherinnen, die nicht vermisst wurden – und die für ein alkoholisches Getränk schon einmal mit einem Mann mitgegangen sind. Kennengelernt hat Honka die Frauen meist im Umfeld des „Goldenen Handschuh“, einer Kiezkneipe voller Trinker. Und Fatih Akin hat diese Geschichte konsequent als Horrorfilm verfilmt.
Serienkiller und ihre Opfer werden im Kino oder im Fernsehen allzu oft verklärt. Die Mörder sind irgendwie charismatisch, klug oder wenigstens gerissen. Fritz Honka – gespielt von Jonas Dassler – nicht. Er ist hässlich, hat abstoßende Zähne, fettige Haare, hinkt, wird schnell wütend. Aber er hat einen Job, daher Geld und kann Alkohol kaufen. Die Frauen, die mit ihm in die Wohnung gehen, sind oft über 50 Jahre alt, offensichtlich verlebt, sie sind dick und teilnahmslos und lassen vieles über sich ergehen.
Dann gibt es einen Punkt, an dem Honka ausrastet. Weil er keinen hochkriegt. Weil die Frau ihn auslacht. Ihn beschimpft. Oder einfach so. Und dann tötet er. Der erste Mord hat bereits stattgefunden, wenn die Kamera das erste Mal in Honkas Wohnung ist. Doch die Leiche ist zu schwer, also muss er sie zerteilen. Auf dem Boden der Wohnung liegt diese tote Frau, Honka zieht sie aus, trinkt sich mehrfach Mut an, legt Adamos „Es geht eine Träne auf Reisen“ auf – und wenn er die Säge ansetzt, dann ist nicht zu sehen, dass er ihr den Kopf absägt. Aber es ist zu hören. Ein saftiges, knackendes Geräusch, das sich unerbittlich in die eigenen Eingeweide einfrisst. Und dessen musikalische Untermalung die Grausamkeit nur noch unterstreicht, nicht ironisch kommentiert.
Es ist nicht die schlimmste Szene des Films, die folgt erst später, wenn Honka eine Frau erwürgt. Akin hat nicht vor, hier irgendetwas zu beschönigen, deshalb sieht man diesen Todeskampf der Frau, hört ihr Würgen, sieht, das ihr Schließmuskel versagt hat – und es ist beinahe unerträglich. Aber Serienmorde sind unerträglich. Sie sind brutal. Ihnen haftet nichts Glamouröses an, sondern sie erfordern auch körperliche Kraft – und endlich zeigt das einmal ein Film, ohne zum Gewaltporno zu verkommen oder von sich zu behaupten, die Realität abzubilden. Der Goldene Handschuh nutzt genuin filmische Mittel dafür: Oftmals sieht man Honka bei den Gewaltszenen von hinten, sein Körper verdeckt, was er tut – die Gewalt indes entsteht im Kopf des Zuschauers. Und zwar unmittelbar: Wenn Honka das Versteck der Leichen öffnet und zu würgen beginnt, ist der Würgereiz da.
Bemerkenswert ist indes vor allem, dass Akin zwar von abstoßenden Menschen erzählt, sein Film aber auf sie nicht mit Verachtung, Zynismus oder Ironie blickt. Stattdessen zeigt sich gerade in den Sequenzen in „Zum Goldenen Handschuh“, dass er auf sie mit Zuneigung blickt, nur sind die Gäste dort nicht liebenswürdig. Sie sehen eben nicht aus wie Emily Blunt in Girl on a train oder Nicolas Cage und Elizabeth Shue in Leaving Las Vegas; sie sehen nicht aus wie Charlize Theron in Dark Places – oder Christian Bale in American Psycho. Sie sind dick, haben Tränensäcke, schlechte Haut, dreckige Fingernägel, fettige Haare, braune Zähne, schlechtsitzende Klamotten; sie lallen, reden dummes Zeug. Aber wenn dann im „Goldenen Handschuh“ Heintje gespielt wird, spürt man die Sehnsucht, die in allen noch steckt, die Traurigkeit des Wissens, dass sie vielleicht einmal mehr wollten, als bis zum nächsten alkoholischen Getränk zu kommen. Außerhalb des Kinos würde kaum jemand das bemerken, man würde diese Menschen nicht bemerken, nicht bewusst hinsehen. Es ist einfach, mit individuellen Figuren in Filmen Mitleid zu haben – aber mit dem offensichtlich Betrunkenen, der jede Woche in der Kneipe am Eck sitzt, haben das nur wenige.
Es sei denn, sie werden zu Kuriositäten. Einmal sitzt ein bürgerliches Paar im „Goldenen Handschuh“, offenbar will es einmal etwas „erleben“ – und lässt sich von dem freundlichen Wirt erklären, was es denn mit den Spitznamen auf sich hat. Die Angesehen haben einen Doppelnamen: Tampon-Günther zum Beispiel. Oder Doornkaat-Max. Oder Soldaten Norbert. Natürlich ist das lustig, natürlich ist das eine hübsche Anekdote, die auch in diesem Film für Erleichterung sorgt und die das Ehepaar dann zu Hause an der bundesrepublikanischen Kaffeetafel der 1970er Jahre erzählen kann. Aber das Leben dieser Menschen bleibt dennoch hart – und dem Film gelingt es, sie gerade nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, obwohl sie – insbesondere Honka – haarscharf auf der Grenze zur Karikatur sind.
Es ist der Blick, der diesen Film auszeichnet. Das zeigt sich bei Honka, im „Zum goldenen Handschuh“, aber auch im Produktionsdesign, das herrlich schäbig und verranzt ist, da wird der Dreck auf der Straße endlich mal im Kino sichtbar. Auch so waren die 1970er Jahre in der Bundesrepublik. Aus dem Radio kommen Schlager, gefeiert wird mit Astra, Korn und Doornkat und einer Tüte Chips. Das Wirtschaftswunder hat nicht alle mitgenommen, aber viele haben noch ganz kleinbürgerliche Träume: eine Wohnung, eine Beziehung. Die Erwachsenen haben den Krieg noch miterlebt, sie sind traumatisiert und am Rand der Gesellschaft gelandet. Doch in Vorstädten träumen die Jugendlichen schon von einem aufregenden Leben. Auch das ist eine schöne Gegengeschichte in diesem Film: Der Junge, der dem Mädchen seiner Träume zeigen will, wie weltmännisch er denn ist und sie mit in den Goldenen Handschuh nimmt. Nicht nur sind sie aufgrund ihres Alters völlig fehl am Platze, er verkennt auch die Gefahr dieses Ortes – und das wird nicht für beide gut ausgehen.