Eigentlich wusste ich ja, dass es weniger Frauen in der Filmkritik gibt. Wenn ich mich zurückerinnere, gab es in den vergangenen Jahren eine Pressevorführung, bei der ich den Eindruck hatte, dass Frauen ungefähr die Hälfte aller Anwesenden, vielleicht sogar etwas mehr ausmachen: bei Amy Schumers I Feel Pretty. Dagegen begrüßte mich eine Kollegin zu der PV von Star Wars: Rogue One mal mit den Worten, „Herzlichen Glückwunsch, Du hast soeben die Frauenquote auf ungefähr 10 Prozent erhöht“.
Sich bei Pressevorstellungen umzusehen reicht zunächst einmal, um subjektiv festzustellen, dass mehr Männer anwesend sind. Bei manchen Filmen – gerade im Spannungsbereich – stelle ich zuweilen einen eklatanten Unterschied fest, bei anderen Genres etwas weniger. Aber das sind eben nur Beobachtungen, die ich – und andere Kolleginnen – machen, in deutschen Großstädten. Doch nun hat eine Studie der USC Annenberg Inclusive Initiative das Geschlecht und die Ethnizität der AutorInnen untersucht, deren Kritiken bei Rotten Tomatoes bei den 100 Filmen mit den höchsten Einspielergebnissen angegeben sind. Das Ergebnis ist ernüchternd: Von den 19,559 Kritiken stammen 77,8 Prozent von Männern, 82 Prozent von Weißen. Weiße Männer schreiben 63,9 Prozent dieser Kritiken, Women of Color 4,1 Prozent. (Weiße Frauen 18,1 Prozent; Men of Color 13,8 Prozent).
Mein erster Impuls war: Natürlich, nun tut alle nicht überrascht! Endlich stand dort schwarz auf weiß, was ich gefühlt schon immer als wahr empfunden habe. Natürlich kann man Einwände gegen das methodische Vorgehen der Studie haben, natürlich könnte man anführen, dass das Problem vielleicht bei Rotten Tomatoes liegt. Aber es reicht schon ein Blick in die Kinoseiten deutschsprachiger Tageszeitungen oder fast jedes Online-Magazin um festzustellen, dass sich überall ein ähnliches Bild bietet. Nicht nur beschränkt auf das Kino – auch Zahlen hinsichtlich der Literaturkritik stellen fest, dass weiße, männliche Kritiker in der weit überwiegenden Mehrheit sind.
Diese Studie ist nun hoffentlich ein weiterer Impuls, auf solche Dinge zu achten. Langsam entsteht zumindest bei Kritikerspiegeln, die gerne zu großen Filmfestivals zusammengestellt werden, ein Bewusstsein, dass man auf die Zusammensetzung der Jury achten sollte und nicht einfach seine Kumpels fragt. Erste Anzeichen gab es in Cannes, dort erzählten manche Kolleginnen, dass sie angefragt wurden, weil Publikationen gemerkt haben, dass ihr Kritikerspiegel viel zu männlich ist. Dass der Weg zu gleicher Repräsentation noch weit ist, bleibt davon ja unbenommen.
Außerdem gab es auch innerhalb der Filmindustrie weitere Bemühungen, für mehr Diversität zu sorgen. Brie Larson verkündete bei den Crystal + Lucy Awards, dass das Sundance und Toronto Film Festival sicherstellen wollen, dass “at least 20 percent of their top-level press passes will go to underrepresented critics.” Das ist ein begrüßenswertes Bestreben, zumal es nach einiger Kritik auch dahingehend erweitert wurde, dass diese KritikerInnen finanziell unterstützt werden. Das ist ein Aspekt der filmkritischen Festivalarbeit, über den nur selten öffentlich gesprochen wird: Ich muss es mir leisten können, zu einem Festival zu fahren. Reisen, Unterkunft, Verpflegung vor Ort kosten Geld; Akkreditierungen ebenso – und wenn mir dann Auftraggeber fehlen, ist es schlichtweg schon finanziell nicht zu stemmen. Hinzu kommen Hindernisse wie fehlende Betreuungsmöglichkeiten für Kinder – oder aber das Verbot, an bestimmten Orten zu stillen.
Brie Larson sagte an diesem Abend in Los Angeles aber noch etwas anderes: Sie brauche keinen 40-jährigen weißen Mann, der ihr erzählt, dass Das Zeiträtsel für ihn nicht funktioniere. Dieser Film sei nicht für ihn gemacht. Sie will lesen, was Women of Color dazu schreiben, oder Kinder of Color, für die der Film ja gemacht wurde. Und ab hier wird es gefährlich. Fakt ist: People of Color und insbesondere Women of Color sind in allen Bereichen der Filmindustrie und auch der Filmkritik eklatant unterrepräsentiert. Daran muss sich etwas ändern. Doch diese Aussage weist in eine andere Richtung: Es gibt ein „richtiges“ Publikum für Filme und ein falsches. Will ich lesen, was eine Women of Color zu Das Zeiträtsel zu sagen hat? Natürlich. Aber genauso will ich lesen, was eine Women of Color zu Avengers: Infinity War zu sagen hat. Oder zu I Feel Pretty. Oder zu Mackie Messer – Brechts Dreigroschenoper. Will ich lesen, was Das Zeiträtselfür ein Mädchen of Color bedeutet? Natürlich. Aber nicht als Ersatz für eine Filmkritik. Kinder sind das intendierte Publikum, aber sie können auch bei einem Kinderfilm nicht alle Implikationen sehen. Weil sie Kinder sind.
Doch es nicht nur Brie Larson, die zu diesem wenigstens ungeschickten Argument greift. Nach den durchwachsenen Reaktionen auf Ocean’s 8 sagten Mindy Kaling und Cate Blanchett, dass die Dominanz weißer Kritiker unfair sei. Doch hier werden zwei Dinge vermischt: Die Dominanz weißer Kritiker auf Seiten wie Rotten Tomatoes muss hinterfragt und geändert werden, zumal diese Aggregatorenseite sehr viel Einfluss gerade in den USA hat. Außerdem gibt es keine objektive Filmkritik, deshalb glaube ich, dass Filme gibt, die ich anders sehe, weil ich eine Frau bin – und deshalb anders sozialisiert bin. Aber nur weil ich eine Frau bin, wird ein schlechter Film mit einer weiblichen Besetzung nicht besser. Ocean’s 8 scheitert an einem allzu lieblosen Drehbuch, nicht an dem Geschlecht des Kritikers. (Das zeigen ja beispielsweise auch die Kritiken von Jia Tolentino im New Yorker, Manohla Dargis in der New York Times, Stephanie Zackare im Time Magazin.)
In dieser Wahrnehmung schwingt etwas mit, was mich sehr ärgert. Es gibt in der Kritik sowohl von Literatur als auch Film trotz aller Reflexion weiterhin eine Einteilung zwischen Frauen- und Männerthemen, Frauen- und Männerfilmen, Frauen- und Männergenres. Sehr verkürzt dargestellt gibt es durch die jahrhundertelange Ansammlung von Deutungshoheit und Macht bei (weißen) Männern weiterhin die Wahrnehmung, Männerthemen seien gesellschaftlich relevant und wichtig, Frauenthemen sind, nun ja, eben für Frauen wichtig. Deshalb sind Filme, die von politischen Verschwörungen und Atombomben erzählen, gesellschaftlich relevanter als ein Drama über eine überforderte Pflegerin im Altenheim. An dieser Einteilung muss sich etwas ändern – und das wird unter anderem durch diverse Stimmen in der Filmkritik geschehen. Deshalb ist es wichtig, viele Stimmen zu haben, die den Diskurs und die Deutungshoheit verändern – nicht, um Marketing für einen Film zu machen.
Und hier ist noch sehr viel zu tun: Trotz leichter Besserungen haben weiterhin viele Filme ein bestenfalls bedenkliches Frauenbild – und ich glaube, viele männlichen Kollegen stören sich daran weniger. (Falls es gesagt werden: natürlich trifft das nicht auf alle Männer zu.) Das hat viel mit Empathie zu tun, lässt sich aber mühelos auf die Repräsentation von behinderten Menschen, People of Color, LGTBQI-Personen ausweiten. Weiterhin ist die Default-Einstellung dieser Welt männlich und weiß. Und je mehr diverse Stimmen es in der Filmkritik gibt, desto eher wird sich daran etwas ändern. Gerade in der Filmkritik ist es wichtig, dass Blindstellen aufgedeckt werden. Filmkritik hängt immer mit der Sozialisation zusammen. Das ist der subjektive Anteil: Mein Aufwachsen, meine Seh-Biografie, mein Umfeld beeinflussen meine Wahrnehmung – und deshalb spielt Gender hier natürlich eine Rolle. Jedoch ist eine diversere Kritik kein Garant für positive Kritiken.
Dahinter steckt ein Anspruchsdenken, das mit Dankbarkeit zu tun hat: Bejubele gefälligstOcean’s 8, denn es ist endlich einmal einen Heist-Film mit Frauen! Aber es ist ja nicht so, als würden Hollywoodstudios diese Filme aus altruistichen Gründen drehen – und selbst falls das Grund wäre: Die Absicht eines Films ändert nichts an seiner Qualität des Films. Deshalb kann ich begeistert sein, mit Wonder Woman endlich eine Superheldin auf der Leinwand zu sehen, aber genauso die Schwächen des Films erkennen. Es geht doch dann genau darum, diese Begeisterung zu reflektieren und zu hinterfragen. Gute KritikerInnen wissen nicht, wie ein Film bei jemandem anders ankommt. Aber sie versuchen sich vorzustellen, wie er ankommen könnte. Sie kennen den Unterschied zwischen persönlichem Geschmack und einem ästhetischen Urteil; sie würden nicht einen Film aufgrund eines Genres ablehnen oder bejubeln.
Wenn es nun aber heißt, Filme „seien für mich gemacht“, dann fühle ich mich als Kritikerin weniger ernst genommen. Denn darin schwingt auch die Annahme mit, ich sei nur deutungsbefugt und -relevant, wenn es um Filme geht, die für mich und meinesgleichen gedacht sind. Dieses Argument kann dann bei jeder Kritik angebracht werden, letztlich bedeutet dann jede schlechte Kritik, dass sie einfach nicht von der Zielgruppe kommt. Aber es geht bei Filmkritik nicht um Zielgruppen. Das ist Marketing. Bei Kritik geht es um die Kunst. Ich brauche keine eigenen Filme, ich brauche gute Filme. Wenn ich eines gerne getan hätte, dann Das Zeiträtsel und Ocean’s 8 abzufeiern. Aber ich bin nicht blind, nur weil ich zwei XX-Chromosomen habe.