Seit einiger Zeit denke ich über die Geschichte der Kriminalliteratur nach. Aber schon hier muss ich einhaken: Gibt es überhaupt „die“ Geschichte der Kriminalliteratur? Und falls ja, warum hat sie bisher niemand geschrieben? Daher ist der Eingangssatz zu unscharf. Also: Seit einiger Zeit denke ich darüber nach, welche Kriminalromane aus vergangenen Zeiten – ja, was? Heute noch bekannt sind? Als relevant betrachtet werden (was ist Relevanz in diesem Zusammenhang?)? Als stilbildend betrachtet werden? Damit komme ich einen Schritt weiter. Niemand wird wohl bestreiten, dass Dashiell Hammetts „Rote Ernte“ über Jahrzehnte Einfluss auf die Kriminalliteratur hatte (wenngleich sein „Malteser Falke“ sicherlich das bekanntere Werk ist). Also: Kriminalromane aus vergangenen Zeiten, die als stilbildend betrachtet und als Referenz herangezogen werden. Hier wird es schon wieder schwierig: Wer zieht es als Referenz heran? Autor*innen? Kritiker*innen? Wissenschaftler*innen? Perpetuieren sich damit nicht wieder Deutungshoheiten, die Werke von nicht-weißen Autoren nicht beachtet haben?
Beispielsweise wird meines Erachtens Daphne Du Mauriers „Rebecca“ nicht der Stellenwert zugesprochen, den dieser Roman in einer Geschichte der Kriminalliteratur haben sollte – insbesondere der Einfluss, den er auf psychologische Spannungsromane hatte. Doch hier ist es mit dem Verweis darauf, dass DuMaurier eine Autorin war und psychologische Spannungsliteratur oftmals abgewertet wird, nicht getan. DuMauriers Einfluss lässt sich nicht nur auf den Roman beziehen, der zwar ein Bestseller zum Erscheinen war, aber auch von Hitchcock sehr erfolgreich verfilmt war. Kriminalliteratur lässt sich nicht von anderen medialen Formen trennen. Hammetts und Chandlers Nachwirkungen sind verbunden mit dem film noir; der deutschsprachige Kriminalroman ist ohne Tatort nicht zu analysieren. (Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Polizei in deutschsprachigen Kriminalromanen ohne eine Auseinandersetzung mit dem Polizeibild im Tatort unvollständig.)
Der Zusammenhang von Chandler und Hammett mit dem film noir verweist noch auf etwas anderes: Kriminalliteratur ist international. Denn film noir ist wiederum ohne die Rolle der französischen Filmkritik nicht zu denken, auch bei dem Erfolg des noir als Stilrichtung in der Literatur und im Film ist Frankreich ein entscheidender Faktor. Eine Geschichte der Kriminalliteratur muss international sein.
Diese Internationalität ist oft ein Faktor von Abwertung der Kriminalliteratur als billig produzierte Massenware für einen globalen Markt. Sicherlich mag das auf manche Krimis zutreffen. Aber eben nicht auf alle. Eine Geschichte der Kriminalliteratur müsste also zudem auch noch zwischen diesen Werken unterscheiden. Dafür wird oftmals der Begriff „literarischer“ Krimi gebraucht – aber das ist nicht, was ich meine. Vielmehr transportiert schon dieser Begriff die Dichotomie zwischen „hoher“ und „populärer“ Literatur, die wir allmählich hinter uns lassen sollten.
Vielmehr muss die Popularisierung von Kriminalliteratur bei einer Geschichte der Kriminalliteratur explizit mitgedacht werden. Sie ist ein Bestandteil des Genres. Sie sorgt zum einen dafür, dass sich in den vergangenen Jahren immer mehr Krimis an vermeintlich marktgängigen Mustern etablieren (vgl. dazu die aktuelle Kolumne von Thomas Wörtche in der Buchkultur) und zum andere für die abwertenden Reflexe von „etablierten“ Institutionen. Die Popularität verhindert eine fundierte literaturwissenschaftliche Beschäftigung, aber gerade populäre Muster sollten immer auch Gegenstand (wissenschaftlicher) Auseinandersetzung sein.
Dafür plädierte vor kurzem auch Else Laudan in ihrem Gastbeitrag (auch hier im CrimeMag) bei der Aktion #breiterkanon, die verschiedenen Kanondiskussionen bündeln und „bestehende Kanones kritisch“ hinterfragen will. Nun ist es bestimmt nicht mein Ziel, mit meinen Überlegungen zur Kriminalliteraturgeschichte einen Kanon der Kriminalliteratur zu schaffen, ganz im Gegenteil. Kanones an sich sollten hinterfragt werden, da mit ihnen immer Deutungsmacht ausgedrückt wird. Sie sind ein Herrschaftsinstrument. Aber so sehr ich dafür plädiere, die Idee des Kanons, die Idee einer Zusammenstellung von Texten, deren Bedeutung zugesprochen wird zu hinterfragen, kann ich nicht ignorieren, dass zwischen Kanon und Geschichtsschreibung ein Zusammenhang besteht, es Kanones gibt, es immer ein Bedürfnis nach Orientierung geben wird und sie – wie Gattungen – eine gewisse Ordnungsfunktion ausüben, die die Verständigung über Themen erleichtert.
In ihrem Beitrag nun tritt Laudan dafür ein, auch populäre Literaturen einzubeziehen und führt das am Beispiel der feministischen Kriminalliteratur aus. „In den 1980er Jahren begannen Feministinnen sich das Genre anzueignen, was die Rezeption stark veränderte.“ Zu den „Positionierungsangeboten“ kommt in den 1980er und 1990er Jahren eine internationale „Gleichzeitigkeit“ von Autor*innen, zu denen unbedingt Helen Zahavi gehört, die aus dem Diskurs über feministische Kriminalliteratur oft herausgehalten wird, dort aber unbedingt hingehört. Dazu eine ganze Reihe von Autoren wie Jerome Charyn, Paco Ignacio Taibo, Walter Mosley, Derek Raymond usw. Sie sind keine „Gruppe“, daher auch der Hilfsbegriff der „Gleichzeitigkeit“. Sie verbinden in ihren Romanen (post-)modernes Erzählen mit kriminalliterarischen Themen und Plots. Ich schreibe hier bewusst Romane: Es sind literarisch avancierte Texte über Verbrechen. Vielleicht also müssen wir einfach aufhören, Romane als Kriminalromane zu bezeichnen? Würden damit sämtliche Klassifikationen und Hierarchisierungen verschwinden? Ich fürchte nein.
Aber der Verzicht auf diese Bezeichnung kann durchaus erfolgreich sein. Henning Mankells Erfolg ist zu großen Teilen darauf zurückzuführen, dass er zu einem günstigen Zeitpunkt in einem Verlag erschienen ist, dem großes literarisches Prestige zugesprochen wird und auf seinen Büchern stets nur „Roman“ stand – nicht Kriminalroman. Dadurch erhielten seine kriminalliterarisch nicht innovativen Texte Aufmerksamkeit vom Feuilleton und einer Leserschaft, die sonst weniger zu Krimis greifen würde. Dennoch aber steht auch Mankell in einem Verhältnis zur Genre-Tradition – in seinem Fall der skandinavische Sozio-Krimi. Natürlich lässt sich Kriminalliteratur ohne Genre-Kenntnisse rezipieren – aber mit Genre-Kenntnissen rezipiert man sie anders. Deshalb hat Mankell durch seinen Erfolg zweifellos Einfluss auf die Entwicklung des Genres gehabt – seine Romane sind aber sicherlich nicht ästhetisch innovativ. Dennoch sollte zwischen Genre und Nicht-Genre keine wertende, ausschließende Grenze gezogen werden. Das zeigt schon Merle Krögers „Die Experten“. Auf diesem Buch steht Thriller. Es verwendet Erzähltechniken des Thrillers, genauer: des Polit- und Spionagethrillers. Und es ist einer der besten Romane des Jahres 2021.
Deshalb bin ich auf der einen Seite sehr dafür, Kriminalliteratur in die Kanondiskussionen aufzunehmen. Dadurch würde sich die Sichtweise auf diese Literatur ändern. Sie könnte in Schulen und Universitäten behandelt werden. Sie könnte den Blick auf Gesellschaft und historische Narrative verändern, sie könnte Deutungshoheiten infragestellen. Allerdings nicht nur durch ihre Themen und Sujets, sondern auch durch ihre ästhetischen und stilistischen Verfahren. Und doch frage ich mich, ob es beim Krimi und Kanon nicht auch ein bisschen ist wie beim Krimi und Feuilleton: Ist es ein Schielen nach Legitimation von Institutionen? Kanon und Feuilleton stehen fürs Establishment, für Deutungsmacht, für Ordnungsprinzipien. Braucht Kriminalliteratur vielleicht nicht deren Anerkennung, sondern vielmehr die Opposition zu dem Bestehenden? Oder ist das wiederum eine allzu romantische Sichtweise auf Crime Fiction?
Eine Antwort, ein Ergebnis habe ich nicht. Deshalb ist dieser Text vor allem ein Angebot zum gemeinsamen Nachdenken. Denn ich weiß letztlich nur eines: Es gibt großartige Romane, die ästhetisch avanciert und innovativ sind – und über Verbrechen erzählen.
Erschienen im CrimeMag Juli 2021.