Sonja Hartl

Quälende Erinnerungen

Zwei Frauen. Selma Sudić, alt, alleine wohnend, Tagespflegerinnen kommen vorbei. Theres Rössler, Mitte 30, verheiratet, eine Tochter. Sie kennen einander zu Beginn von Anne Goldmanns „Das größere Verbrechen“ nicht, verbunden sind sie durch die Anordnung der Kapitel. Gleich am Anfang stehen die Erinnerungen von Selma Sudić, nach einem doppelten hochgestellten Strich folgt dann Theres‘ Gedankenstrom. Es ist diese Anordnung und die jeweilige Ich-Perspektive, durch die die Geschichten dieser Frauen von vorneherein in einen Dialog treten. Dann erhält Theres im ersten Kapitel einen Anruf, der sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Als Teenagerin ist sie schwanger geworden, den Sohn hat sie zur Adoption frei gegeben, nun meldet er sich bei ihr – Jan heißt er und will sie kennenlernen. Im zweiten Kapitel gesteht Frau Sudić einen Mord: „Ein Mensch ist tot durch meine Schuld. Ich sitze hier und rede mit Ana. Ich esse und schlafe und schaue aus dem Fenster wie davor.“

Keines ist das Verbrechen, das der Titel andeutet, ohnehin ist am Ende klar, dass es immer ein Verbrechen gibt, das größer ist als das vorherige. Taten haben Folgen, die sich nicht einfach auslöschen lassen, sie hinterlassen Spuren in den Leben der komplexen Frauenfiguren, die Anne Goldmann in den Mittelpunkt stellt. Sie umkreisen ihre Gegenwart, erwehren sich den Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Es ist das Ringen mit der traumatischen Last der Erfahrungen und Entscheidungen, das ihre Leben prägt. Frau Sudić würde so gerne vergessen, was sie getan hat und was ihr widerfahren ist, Theres indes weigert sich anzuerkennen, dass sie etwas getan hat, was eigentlich nicht zu der verunsicherten Frau passt, für die sie sich hält.

Die Verlässlichkeit der Dominanz

Es ist diese Verunsicherung, die Theres zu einer bemerkenswerten Frauenfigur macht: sie glaubt sich passiv, außenstehend, von dominanten Männern umgeben, übersieht aber, dass ihre vermeintlichen Nicht-Handlungen Konsequenzen haben. Doch sie hat sich bequem eingerichtet in dem Schweigen und der Duldsamkeit, es gelingt ihr, ihre Zweifel für sich zu behalten. Nach jedem kurzen Aufbegehren zurück zu rudern. Bis Jan diesen Kokon aufzubrechen droht. Überhaupt die Männer in Theres‘ Leben: Ihre Jugendliebe ist damals verschwunden, einfach abgehauen, glaubt sie; nun ist sie verheiratet mit Thomas, der sie betrogen hat und ihr die Last aufdrängt, dass er in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist. Ihr Vater, ein jovialer Bezirkspolitiker, herrscht über die Familie, unterdrückt die Mutter, sogar der alte Herr Nejedly, den sie im Altenheim besucht, macht sie fertig. Jans Adoptivvater scheint ebenfalls ein Despot zu sein, ein Polizist, der seine Familie dominiert. Aber es gibt auch etwas Zuverlässiges in diesem Druck, in dieser Dominanz, das immer wieder anklingt. Es erlaubt Passivität, es suggeriert eine trügerische, gefährliche Behaglichkeit.

Umgang mit Schuld

Und dann ist da die Schuld, die diese Frauen empfinden. Frau Sudić fühlt sich schuldig, sie weiß, sie hat etwas getan. Und doch ist es das, was ihr angetan wurde, was ihr Leben zerstört hat. Auch Theres fühlt sich schuldig, weil sie ihren Sohn weggegeben hat, weil ihr Mann sie betrügt, weil sie einfach nicht mutig sein kann. Und doch hat sie für alles einen Schuldigen, einen Verantwortlichen, der ihr diese Last abnimmt. Bis sie erkennt, dass sie selbst Handlungsmöglichkeiten hat. Dass sie Entscheidungen treffen kann und muss. Allerdings bringen diese es mit sich, möglicherweise weitere Schuld auf sich zu laden.

Zu Theres und Frau Sudić kommen noch die anderen Frauen in diesem Roman, vor allem Ana, die malt und bei Frau Sudić und Theres putzt, auf die Jan ein Auge geworfen hat. Seit sie „denken konnte, hatten die Erwachsenen an ihr herumgezerrt, sie hineingezogen in ihre Geschichten, als wäre sie nur da, um zu bezeugen, was sie einander anzutun imstande waren.“ Und auch hier gerät sie immer wieder in diese Perspektive der Beobachtenden und Erkennenden. Außerdem gibt es Nina, Theres‘ Tochter und Jans Halbschwester, die mit dem unerschrockenen Pragmatismus und der selbstbewussten Dramatik einer 15-Jährigen die Dinge angeht. Sie ist wundervoll trotzig, gleichermaßen nervend wie hellsichtig. Dabei lässt Anne Goldmann wohltuend offen, wie es um das Verhältnis der Halbgeschwister bestellt ist.

Bittere Uneindeutigkeiten

Ohnehin sind die Leerstellen klug gesetzt in diesem Roman, gerade in den Erinnerungen von Frau Sudić. Gerade erst hat Annie Ernaux mit den „Erinnerungen eines Mädchens“ einen eindrucksvollen autobiographischen Erinnerungsversuch einer älteren Schriftstellerin vorgelegt, die versucht, die Erfahrungen ihres 18-jährigen Ichs zu fassen und mit ihrem Bemühen um Genauigkeit die Tragweite dieser Erfahrung und der rigiden Moral- und Sexualvorstellungen brillant erfasst. Dagegen ist es die Genauigkeit der Erinnerungen, die Frau Sudić in „Das größere Verbrechen“ nicht abschütteln kann. Sie hat Worte für das, was passiert ist. Allein, sie will es nicht benennen.

Es sind vor allem die Charaktere, die diesen feingesponnenen Roman ausmachen: die zerbrechliche Frau Sudić, die sich nicht mehr anfassen lassen will, aber körperlich Hilfe braucht. Theres Rössler, die nicht einsehen will, wie es um ihre Ehe steht und dass auch sie egoistisch handelt; ihre kratzige, pubertierende Tochter und die wütende Ana, die sich durchs Leben schlägt. Nach und nach überkreuzen sich ihre Wege. Es geschieht noch ein weiteres Verbrechen, das am Ende leider aufgeklärt wird. Diese eine Leerstelle mehr hätte ich mir gewünscht, diese weitere Unsicherheit hätte der Roman noch ausgehalten. Vielleicht sollte die Enthüllung ein bitterer Schlusspunkt sein, doch das Nicht-Wissen wäre umso bitterer gewesen. Was das Ende aber so oder so überdauert, ist die Gewalt, die diese Leben markiert – und die neue, psychische, physische oder sexuelle Gewalt gebiert. Man muss sie nicht ausbuchstabieren, um von ihr erzählen.

Anne Goldmann: Das größere Verbrechen. Argument-Verlag, Ariadne Kriminalroman 1234, Hamburg, 2018. 235 Seiten, 15 Euro.

Erschienen im CrimeMag im November 2018.

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