Sonja Hartl

Der finnische Weg

Spricht man hierzulande von Skandinavien, ist gar nicht genau klar, welche Länder nun gemeint sind. Streng geographisch wird damit die Skandinavische Halbinsel bezeichnet, auf der sich Norwegen und Schweden sowie der äußerste Nordwesten Finnlands befinden. Geschichtlich und sprachlich-kulturell ist mit Skandinavien hingegen meist Schweden, Norwegen und Dänemark gemeint. Meistens umfasst der Begriff Skandinavien zudem aber noch Finnland – und bei sehr großzügiger Verwendung gelegentlich sogar Island.

Im Hinblick auf die Kriminalliteratur scheint aber eine Begrenzung des Skandinavischen auf Spannungsromane aus Schweden, Dänemark und Norwegen sinnvoll. Sicherlich teilen die finnischen Autoren mit ihren Kollegen aus anderen Ländern den ausgeprägten Realismus und die Bevorzugung des Polizeiromans, bei einem genauen Blick aber zeigen sich einige Unterschiede.

Polizisten ohne Weltschmerz

In Finnland werden jährlich ungefähr 90 Kriminalromane veröffentlicht, das sind gut 40 Titel mehr als noch vor zehn Jahren. Beliebteste Hauptfigur ist der Polizist, der in der Regel durch seine Gewöhnlichkeit besticht. Er hat keine herausragenden analytischen Fähigkeiten, sondern erledigt seine Arbeit. Fast exemplarisch verkörpert Kommissar Sakari Koskinen in Seppo Jokinens Kriminalroman „Gefallene Engel“ diesen Typus: Er lebt in Tampere, ist geschieden, hat einen erwachsenen Sohn und bekämpft seine Midlife-Crisis mit Joggen und Rad fahren. Eigentlich sollte er seit seiner Beförderung am Schreibtisch sitzen, aber die Ermordung eines querschnittsgelähmten jungen Mannes lässt ihn nicht los und er will sie unbedingt aufklären, deshalb ermittelt er wieder auf der Straße. Auch der Streifenpolizist Olli Repo in Marko Kilpis lesenswertem „Die Verschwundenen“ will seine Arbeit gut machen. Ihn interessieren die Zusammenhänge von Verbrechen, so dass er die Kriminalpolizei bei ihren Ermittlungen nach einem sadistischen Entführer unterstützt. Sowohl Koskinen als auch Repo leiden mitunter an der Gewalt und Gewissenlosigkeit, die ihnen begegnen, doch im Gegensatz zu ihren schwedischen Kollegen führt dies nicht zu einem generellen Weltschmerz, sondern bleibt in der konkreten Situation. Dazu ist die Schilderung der Gewalt weniger brutal – und findet sich in finnischen Kriminalromanen nur selten das gerade in schwedischer Kriminalliteratur gängige Schema der zwischen Ermittler, Verbrecher und Opfer wechselnden Perspektiven. Meist wird aus Sicht des Polizisten erzählt, der die Hintergründe der Tat verstehen will.

Eine Ausnahme ist hier Marko Leinos „In der Falle“, in dem aus verschiedenen personalen Perspektiven erzählt wird: von dem Polizisten Juha Viitasalo, der sich von einem Verbrecher zu einer korrupten Tat verleiten ließ, von seiner Frau Sari, die in ihrer Depression gefangen ist, und von einem jungen Mann, der durch die falsche Entscheidung seines Vaters auf die schiefe Bahn geraten ist. Sein großartiger Roman hat alle Elemente einer Kriminalgeschichte – korrupte Polizisten, die russische Mafia und unschuldige Opfer –, verzichtet jedoch auf Actioneinlagen, sondern setzt auf psychologische Spannung. Diese Tendenz zur psychologischen Spannung findet sich auch sehr ausgeprägt in den Büchern von Antti Tuomainen.

Gauner sind auch Menschen

Neben den Polizisten sind Kleinkriminelle in der finnischen Kriminalliteratur beliebte Charaktere. Ein Beispiel hierfür ist Viktor Kärppä, unfreiwilliger Helfer der Polizei und möchtegern-legaler Bauunternehmer, der die finnische (Kriminal-)literatur um einen Themenkreis bereichert: Viktor kommt aus Karelien und begegnet deshalb beständig Vorurteilen. Er ist ein Außenseiter: in der Sowjetunion gilt er als Finne, in Finnland als Russe. Rönkäs Romane sind durchzogen von schwarzem Humor, da die Finnen nach Aussage des Autors sich selbst und das Leben nicht so ernst nehmen, weil „wir wissen, dass es so oder so kläglich enden wird.“ Diese Haltung schimmert auch in Tapani Bagges Noir-Reihe durch, die ausnahmsweise nicht in Helsinki, Tampere oder Turku, sondern der Kleinstadt Hämeliina spielt. Dort gibt es weder gute noch böse Menschen, sondern Cops und Kleinkriminelle, die durchs Leben schlittern.

Bei Autoren wie Rönkä und Bagge sind Verbrecher Menschen, die falsche Entscheidungen treffen und oft Opfer ihrer Umstände sind. Ohnehin finden in der finnischen Kriminalliteratur nur selten spektakuläre Serienmorde statt, sondern geschehen alltäglichere Verbrechen wie Korruption und Schwarzarbeit. Geht es um Größeres, kommt die russische Mafia ins Spiel. „In Finnland ist es fast unmöglich, die russische Mafia zu vermeiden, wenn man über Drogen, Schmuggel und Menschenhandel schreibt. Der Größenunterschied zwischen Russland und Finnland als Staaten wie auch hinsichtlich der organisierten Kriminalität wird zwangsläufig sichtbar. In gewisser Weise gelten hier dieselben Bedingungen wie in der finnischen Außenpolitik: Bei der Beschlussfassung kann man Russland nie vergessen oder außer Acht lassen“, sagt Leino.

Nicht nur die Nähe zu Russland hinterlässt Spuren in der finnischen Kriminalliteratur, seit den 1990er-Jahren nimmt zudem die Popularität international angelegter Thriller zu. Diesen Erfolg hat das Genre vor allem den Werken von Ilkka Remes und Taavi Soininvaara zu verdanken, die in ihren Plots internationale Verwicklungen in die finnische Realität einbinden. Eine weitere Stimme ist Pekka Hiltunen, in dessen Büchern die Internationalisierung noch weiter vorangeschritten ist. Im Zentrum seiner Reihe steht das Studio, eine Gruppe von sechs engagierten Menschen, die die Welt zu einem besseren Ort machen will. Die Ungerechtigkeiten, gegen die sie vorgehen, finden allerdings nicht in Finnland, sondern in London statt – das sei laut Hiltunen für ernsthafte Verbrechen und geheime Operationen der realistischere Ort.

Und die Frauen?

In Finnland ist die Kriminalliteratur von Autoren und männlichen Ermittlern dominiert, die große Ausnahme ist Leena Lehtolainen, die mit ihrer Reihe um die Polizistin Maria Kallio auch in Deutschland erfolgreich ist. In ihren Büchern setzt die Autorin auf alltagsgetreue Milieuschilderungen und thematisiert – insbesondere in den frühen Romanen – Verbrechen gegen Frauen. Im Verlauf der bisher erschienenen 13 Krimis hat Maria Kallio geheiratet und zwei Kinder bekommen, ist aber stets unabhängig geblieben. Dabei will Leena Lehtolainen zeigen, dass die Vereinbarung von Karriere und Familie nicht immer einfach ist, deshalb nimmt in ihren Romanen das Privatleben der Figuren fast ebenso viel Raum ein wie der Fall. Eine weitere erfolgreiche weibliche Stimme ist Kati Hiekkapelto, die für den zweiten Teil ihrer Reihe um die Serienermittlerin Anna Fekete mit dem Finnischen Krimipreis ausgezeichnet wurde.

Polizisten, Kleinganoven und mutige Frauen, die es mit Korruption, Schmuggel, der russischen Mafia und Menschenhändlern zu tun bekommen – die finnische Kriminalliteratur ist vielseitig und trotz des unverkennbaren Trends zur Internationalisierung eigenwilliger als viele skandinavische Kriminalromane. Die Orte sind klein, die Verbrechen gewöhnlich, die Figuren alltäglich und der Erzählstil realistisch – und unter allem liegt oftmals eine bestechend-knorrige Mischung aus Melancholie und Humor. Bisher bewahren sich die finnischen Autor*innen diese Eigenständigkeit, wenngleich damit auch einhergeht, dass sie es hierzulande deutlich schwerer als ihre schwedischen und norwegischen Kolleg*innen haben. Einen Blick aber ist die finnische Kriminalliteratur allemal wert.

 

Erschienen in der Polar Gazette.

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